Die Ästhetik des Scheiterns
von Henry Pierre Bertin
Die Gemeinsamkeit der von Dirk Dietrich Hennig verkörperten,
fiktiven Charaktere ist das Scheitern in ihrem Bestreben einen Platz
in der Geschichtsschreibung zu finden. Dieses Scheitern ist nicht
nur Teil von Hennigs künstlerischem Konzept, sondern auch
bedingte Notwendigkeit des Prinzips der Entdeckung, ohne die es
Hennig nicht möglich wäre, diese bis dahin unentdeckten
historischen Figuren aufzuspüren. Mit dem 1998 von Hennig
gegründeten IfG - Institut für Geschichtsinterventionen schuf sich
der Künstler einen scheinbar wissenschaftlichen Ausgangspunkt
seiner Projekte, der den Blick auf das eigentliche künstlerische
Konzept verstellen sollte. Der Künstler selbst steht im Hintergrund
seines Werkes und ist doch in den entdeckten Charakteren
omnipräsent. Hennig integriert sich als fiktive historische Schöpfung
in den bestehenden, von ihm gewählten kunstgeschichtlichen
Zusammenhang und präsentiert die Ergebnisse seiner
Geschichtsprojekte in kontextuellen Ausstellungen, wobei der
Aspekt der Fiktion nicht direkt, sondern nur auf Nachfrage des
kritischen Betrachters kommuniziert wird. Auf diesem Wege
etablieren sich die eschichtsinterventionen im musealen
Ausstellungsbetrieb und werden so Teil des kunstgeschichtlichen
Kanons.
Das Museum sei die letzte Bastion der Wahrheit, schrieb Francois
Leclerc 1801 (1). Das wäre, zur Orientierung der Wahrheitsfindung
im Wirrwarr der geschichtlichen Mul tiperspektivität, eine schöne
Sache, und doch ist das, was weltweit in den Museen gezeigt wird,
ein Ausschnitt dessen was sich im grobmaschigen Netz der
Geschichtsschreibung verfangen hat. Dieses grobe Netz etwas
enger zu ziehen und seine Mechanismen zu erforschen hat sich das
IfG zur, wohl unerfüllbaren, ScheinAufgabe gemacht.
Denn wie steht es um unseren Umgang mit der Geschichte? Was
wäre vorstellbar wenn diese vermeintliche letzte Bastion der
Wahrheit in ihrer Glaubhaftigkeit in Frage gestellt würde? Würden
die Besucherströme abreißen? Demonstrationen die Straßen füllen?
Ist geschichtliche Wahrheit nicht die Summe der gesammelten
Erkenntnisse? Und werden diese Erkenntnisse nicht täglich durch
neue Funde ergänzt und damit wiederum in Frage gestellt? Gibt
es in letzter Konsequenz überhaupt eine endgültige Wahrheit im
Kontext der Geschichtsbetrachtung? Oder ist es vielmehr der
Wunsch des Menschen nach stabiler Orientierung im Fluss der
ständigen Veränderung, der das Verlangen nach unveränderlicher
Wahrheit aufkommen lässt? Ist es kriminell, einen bestehenden
historischen Kontext durch eine fiktive Biographie zu ergänzen?
Leidet die Geschichte gar an ihrer Manipulation? Diese und weitere
Fragen können aufgeworfen werden, wenn man sich mit der Arbeit
von Dirk Dietrich Hennig auseinandersetzt. In diesem
Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, ob ein solcher freier,
innovativer, normenverletzender Umgang mit der Geschichte
möglicherweise einen gefährlichen Nihilismus und eine Absage an
jede geschichtliche Wahrheit bedeuten könnte, gegen die man
rechtzeitig Widerstand leisten müsste schrieb Boris Groys 1997 (…)
Der Körper der Geschichte leidet daran – und gerade dadurch zeigt
er sich lebendig. (2) Man könnte demnach in Hennig einen
geschichtlichen Reanimator sehen.
Dabei fing alles so harmlos an. Die Reihe Replacements aus der
Zeit um 1998 zeigen Hennig auf Fotos die dem kollektiven
Geschichts- und Filmbewusstsein entliehen sind. Auf fast allen
dieser Fotos hält der Künstler als einzige Person den Augenkontakt
zu dem Betrachter. Joseph Stalin, Franklin D. Roosevelt, Fidel
Castro, Katharine Hepburn oder François Truffaut werden zu
Statisten die den Blick abwenden und einem wiederkehrendem
Unbekannten Raum geben. Die Bilder sind vertraut, jedoch die
Personen deren Gesichter durch das immer gleiche Portrait des
Künstlers ersetzt wurden, werden aus der Erinnerung gelöscht.
Die späteren Arbeiten werden immer komplexer. Am Anfang von
Hennigs zeitraubender Arbeit steht eine auf einen Ort und einen
geschichtlichen Kontext bezogene Idee, die wie ein Keim immer
mehr Triebe schlägt. Die Biographie des fiktiven Charakters ist
dabei das Fundament seiner Arbeit. Darauf aufbauend entstehen
die Werke und die Ausstellungskonzeption. So wird der über das
künstlerische Konzept informierte Besucher einer Ausstellung von
Hennig beim zukünftigen Besuch eines Museums, vielleicht
mit einem neuen Blick auf die Dinge konfrontiert sein. Denn, wie
schon Wilhelm von Humboldt schrieb sind die Tatsachen der
Geschichte in ihren einzelnen verknüpfenden Umständen wenig
mehr, als die Resultate der Überlieferung und Forschung, die man
übereingekommen ist, für wahr anzunehmen (3), oder Stanislaw
Jerzy Lec es formulierte: Die Geschichte lehrt, wie man sie
fälscht (4), um letztlich einen Platz in der Geschichte zu finden.
Paris 2007
THE AESTHETIC OF FAILURE
by Henry Pierre Bertin
The common feature of the fictional characters embodied by Dirk
Dietrich Hennig is failure in their attempt to find a place in the
historical narrative. This failure is not only part of Henning’s artistic
concept, but also a contingent imperative of the principle of
discovery, without which it would not be possible for him the trace
these previously undiscovered historical figures. By founding the
Institut für Geschichtsinter
ventionen (Institute of Historical Interventions, IfG) in 1998, the artist
created a seemingly scholarly point of departure for his project that
was intended to shift one’s gaze to the actual artistic concept.
Henning himself takes a back seat in his oeuvre, and yet he is
omnipresent in all of the characters. He integrates himself as a
fictional historical creation into the existing art-historical context he
has chosen and presents
the results of his history projects in contextual exhibitions, whereby
the aspect of fiction is not communicated directly, but rather only on
inquiry by the critical viewer. In this way, the historical interventions
establish themselves in museums’ exhibition activities and hence
become part of the arthistorical canon.
‘The museum is the last stronghold of the truth’, wrote François
Leclerc in 1801. (1) That would be a fine thing if it helped one to find
the truth in the confusion of historical multiperspectivity, and yet
what is shown at museums world
wide is only a fraction of what has been caught in the coarse-
meshed net of historiography. The IfG has made it its ostensible,
probably unfulfillable, task to tighten the net and explore its
mechanisms.
Because what is the state of our handling of history? What would be
conceivable if the credibility of this alleged ‘last stronghold of the
truth’ were called into question? Would the influx of visitors come to
an end? Protests fill the streets? Is historical truth not the sum of
accumulated insights? And
will these insights not be supplemented daily by new discoveries
and in turn called into question? In the final analysis, is there even
an ultimate truth in the context of the interpretation of history? Or is
it more likely people’s desire for stable orientation in the flux of
constant change that allows the longing for immutable truth to
develop? Is it criminal to add a fictional biography to an existing
historical context? Does history even suffer from its manipulation?
These and other questions can arise if one does not examine Dirk
Dietrich Hennig’s work. In 1997, Boris Groys wrote: ‘In this context,
however, the question arises as to whether such a free, innovative,
norm-violating treatment of history could possibly signify dangerous
nihilism and the rejection of any historical truth – tendencies against
which one should resist. … The body of history suffers from this
condition – and that is precisely what makes it alive.’ (2) In Hennig
one could thus see a historical reanimator.
And yet everything began so benignly. The Replacements series
from the period around 1998 features Hennig in photographs
borrowed from a collective historical and cinematic consciousness.
In nearly all of the images, the artist is the only person who
maintains eye contact with the viewer. Joseph Stalin, Franklin D.
Roosevelt, Fidel Castro, Katharine Hepburn, and François Truffaut
become extras who look away into a recurring unknown space. The
pictures are familiar, yet the people whose faces are always
replaced by the same portrait of the artist are erased from memory.
Later works become more and more complex. Hennig’s time-
consuming work begins with an idea that relates to a site and a
historical context that, like seeds, shoots an increasing number of
sprouts. At the same time, the fictional character’s biography is the
foundation of his work. The works and the exhibition concept are
developed based on this. Hence, during a future visit to a museum,
the visitor to an exhibition by Hennig who is informed about his
artistic concept will perhaps be confronted by a new view of things.
Indeed, as Wilhelm von Humboldt already wrote, ‘The facts of
history are, in their several connecting circumstances, little more
than the results of tradition and scholarship which one has accepted
as true.’ (3) Or, as Stanis?aw Jerzy Lec worded it, ‘History teaches
historians how to falsify it’, (4) in order to ultimately find a place in
history.
Paris, 2007
Footnotes
1) Francois Leclerc: Suite et fin, Interventions historiques,
Jamais Publié, Paris 1801, P. 176 (Francois Leclerc: Fortsetzung und Ende,
Historische Interventionen, nie veröffentlicht, Paris 1801, S. 176) / Translated
from François Leclerc, Suite et fin,
Interventions historiques (Paris: Jamais Publié, 1801). p. 34
2) Boris Groys, Logik der Sammlung, (London: Sternberg Press, 2021) S.221-
22 / Boris Groys, Logic of the Collection, trans. Anne Luther (London: Sternberg
Press, 2021), pp. 221–22.
3) Wilhelm von Humboldt, „Zur Aufgabe des Historikers“, in Theorie und Praxis
der Geschichte, hrsg. Georg G. Iggers und Konrad von Moltke, übers. Wilma A.
Eggers und Konrad von Moltke (Indianapolis: Bobbs Merrill, 1973), 5–23, bes.
6. / Wilhelm von Humboldt, ‘On the Historian’s Task’, in The Theory and
Practice of History, ed. Georg G. Iggers and Konrad von Moltke, trans. Wilma A.
Eggers and Konrad von Moltke (Indianapolis: Bobbs-Merrill, 1973), pp. 5–23,
esp. p. 6.
4) Stanislaw Jerzy Lec: Sämtliche unfrisierte Gedanken, (München: Sanssouci
Verlag, 2000) / Translated from Stanis?aw Jerzy Lec, Sämtliche unfrisierte
Gedanken (Munich: Sanssouci Verlag, 2000), p. 47