Dirk Dietrich Hennig von Kristina Tieke in: artist KUNSTMAGAZIN, Ausgabe 101, Bremen 2014 Im April 2010 zeigte die Tate Modern in ihrer Experimentalfilmreihe „The Square, the Line and the Light“ die Animation „The Connection Between Form and Sound #21“ von George Cup und Steve Elliott aus dem Jahr 1974.(1) Die dreiminütige Arbeit – Teil einer umfangreichen Serie von 8mm-Filmen – interpretiert die Beziehung von Musik und Bewegung in der Tradition des frühen abstrakten Films. Das Centre Pompidou übernahm das Londoner Programm unter dem Titel „Architectures de film“ und präsentierte das Werk von Cup und Elliott im Januar 2011.(2) Die Nobilitierung der beiden Künstler auf internatio- nalem Niveau war geglückt. Dabei reicht ihre gemeinsame Geschichte bis in die 1950er Jahre zurück, als beide an der Art Students League studierten und zu den Protagonisten der New Yorker Kunstszene gehörten. Es existiert ein bestechendes Foto von 1962, das George Cup im Gespräch mit Andy Warhol zeigt: lächelnd, rauchend, in dunklem Anzug und Krawatte. „An asshole, but a handsome one“, wird Warhol dazu gern zitiert. Als Mitbegründer der Minimal Art sollen Cup und Elliott mit Lichtobjekten, Malerei und Künstlerbüchern unter anderem in der Sammlung des Whitney Museum of American Art und im Guggenheim Museum vertreten gewesen sein, bevor Cup 1986 für den Mord an seinem Partner verurteilt wurde und für zwei Jahrzehnte ins Gefängnis ging. „As a consequence, the oeuvre of these two artists […] was almost completely erased“, heißt es auf der Homepage des George Cup Research Center New York / Hannover, das die Karriere des Duos anhand von Interviews, Kurzfilmen und dem kompletten Werkver- zeichnis dokumentiert.(3) Doch Cup und Elliott sind Fantasiegestalten, ihre Biographie ist Fiktion. Die Tate Modern und das Centre Pompidou allerdings haben ihr Werk tatsächlich präsentiert. „Geschichtsintervention“ nennt Dirk Dietrich Hennig seine Strategie, fiktive Künstler und ihr Œuvre in die Kunstgeschichte einzuschmuggeln, was er mit einer detailversessenen Gewissenhaftigkeit betreibt, die es erschwert, seine Manipulationen zu durchschauen. Weil die erfundenen Quellen mit der Zeit zwangsläufig authentische Quellen hervorbringen und die egalitäre Struktur des Internets mit seinen digitalen Datenban- ken jede Art historischer Zuordnung plausibel erscheinen lässt, führen die von Hennig einmal implantierten Gestalten ein virulentes, sich selbst beglaubigendes Eigenleben. Auf diese Weise hat der fiktive slowenische Dichter Victor N. Gaspari den Weg in einen Slowenien- Reiseführer gefunden.(4) Der Fall des Mörders Alphons Erhard Schlitz, der laut Hennig an der Eisenbahnstrecke Worpswede/Bremen fünf Mädchen mit Namen Paula getötet haben soll, wird zur Grundlage eines „auf wahren Begebenheiten beruhenden“ historischen Romans von Hans Garbaden.(5) Und die Internet Movie Database weist die Musik des Komponisten Gustav Szathmáry (1867-1907), den Hennig mit einem tragischen Leben und einer Liebesaffäre mit Paula Modersohn-Becker ausgestattet hat, als Soundtrack des portu- giesischen Kurzfilms „Flor e Eclipse“ (2013) aus.(6) Fakten und Fiktion gehen eine symbiotische Beziehung ein. Die kulturkritische Qualität, die Hennigs Geschichtsinterventionen auszeichnet, offenbart sich bei ihrer Entlarvung. Einmal aufgedeckt, verraten die Manipulationen Entscheidendes über den Kunstbetrieb. Sie geben Auskunft darüber, welche Kriterien von Originalität und Echtheit gegenwärtig ausschlaggebend sind, welche Erwartungs- haltungen und kuratorischen Zwänge das System beherrschen. Der Trend etwa, Künstler jenseits des Mainstreams auszustellen oder posthum erst zu entdecken, ist lange schon zu konstatieren. Massimiliano Gionis Venedig Biennale 2013 war nur der spektakuläre Höhepunkt einer Entwicklung, die den Autodidakten, Schamanen und gesellschaftlichen Outsidern rückwirkend einen Platz auf dem Kunst- olymp einräumt. Dabei scheint die Lust an der Korrektur der Kunstgeschichte auch durch einen moralischen Impetus befeuert. Eine Zeit, in der der Kunstmarkt mit allen hässlichen Nebenwirkungen boomt, in der Giganten wie Koons und Hirst effektvoll die Marketing- mechanismen bedienen und Großgaleristen sich vor Gericht wegen betrügerischer Spekulationen verantworten müssen, bringt eben auch eine Gegenbewegung hervor: Die Rehabilitierung der Erfolglosen, Entrechteten, Vergessenen. Dirk Dietrich Hennigs Affinität zu Autodidakten, chronisch Kranken oder unschuldig strafrechtlich verurteilten Künstlern trifft also den Geist der Zeit. In der Funktion ihrer Fürsprecher, ihrer Biographen oder Nachlass- verwalter tritt Hennig oftmals auf, als Kurator des CIFG, des Instituts für Geschichtsinterventionen, ebenso wie als Leiter des George Cup Research Center. Zugleich aber schlüpft er in die Rolle seiner Schützlinge wie unter eine Tarnkappe. Er verkörpert seine Protagonisten auf Fotografien, steht Modell für ihre malerischen Selbstporträts oder lebensgroßen skulpturalen Widergänger. Er ist, um es mit der Literaturtheorie Gérard Genettes zu sagen, ein intradiegetischer Charakter, ein Erzähler also, der innerhalb der erzählten Welt seiner Geschöpfe lebt. Das hat den Kunsthistoriker Roland Meyer in seinem Katalogbeitrag zur Ausstellung „Made in Germany Zwei“, bei der Hennig 2012 vertreten war, zur Diagnose veranlasst: „Der Künstler Dirk Dietrich Hennig arbeitet seit Jahren an seiner eigenen Unsichtbarkeit. Als Autor eigener Werke tritt er kaum in Erscheinung.“ Doch dieser Befund lässt sich so nicht mehr halten. Zum einen, weil die Täuschungsmanöver derart angelegt sind, dass sie – wenn nicht durch gründliche Recherche, so doch spätestens im Kontext einer Ausstellung – ihr Wesen als Fake offenbaren und Hennig als Urheber gleich mit. Zum anderen, weil er seine Helden, einmal entlarvt, keineswegs schnöde fallen lässt. Wenn er seinem Protagonisten Jean Guillaume Ferrée seit 2003 regelmäßig zu fabelhaften Auftritten verhilft, dann trotz des Umstandes, dass dessen Genese längst allenthalben bekannt ist. Im Rahmen von „Made in Germany Zwei“ hat Hennig die monumentale Installation „Centre Hospitalier Spécialisé“ (2012) in der Kestner Gesellschaft Hannover realisiert. Eine Rekonstruktion jener psychiatrischen Anstalt, in der der Belgier Ferrée in den 1960er und 70er Jahren zeitweilig untergebracht worden sein soll. Die retrograde temporäre Agnosie, eine besondere Form des Gedächtnisverlustes, scheint die Therapie notwendig gemacht und Ferrée dazu veranlasst zu haben, sich seiner Umwelt durch Modelle und Collagen zu vergewissern. So taucht die Klinikzelle als akribisch ausgearbeiteter Architekturbaukasten innerhalb der Installation noch einmal auf – ein mise en abyme, Auftakt unendlicher Wiederholungen und Metapher für den Abgrund der Krankheit. Dass Ferrée ihr nicht entkommen ist, dokumentiert eine Fülle von Archivmaterial: Arztbriefe, Zeitungscover, Magazine und schließlich die Nachricht seines Selbstmords. Für das Konzept Jean Guillaume Ferrée und die Konsequenz, mit der an seinem Beispiel Zeitgeschichte und Kunstbetrieb souverän thematisiert werden, hat Hennig gerade den Paula Modersohn-Becker Kunstpreis 2014 erhalten. Die aus diesem Anlass eingerichtete Ausstellung in der Großen Kunstschau Worpswede verortet den Autodidakten Ferrée nachdrücklich als Künstler zwischen Fluxus und Art brut. Ein riesiger Guckkasten in der Tradition jener Papiertheater, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat, entführt hier in eine Kulissenwelt aus bizarren Industriegebäuden und Häuserschluchten. Menschliche Gestalten türmen sich wie Müll, grinsen, lachen, starren uns an, Wolkenbänder dräuen über der Szene. Ein Wirbel scheint dieses papierene Multiversum zu erfassen, vor dessen Gewalt alles kapituliert. Wie eine Zwangshandlung wirkt da der schöpferische Akt, ein vergeblicher Versuch Ferrées, dem Chaos Struktur und Ordnung zu geben. Hennig stellt seinen Exponaten in Worpswede die Transportkisten zur Seite, in denen die Kunst verpackt war: Massive Holzkonstruktionen, sorgfältig mit Patina versehen, an deren Beschriftungen, Aufklebern und Signaturen sich Orte und Zeiten ablesen lassen. Zeugen einer Odyssee von mythischem Ausmaß. Sie verstärken das Gefühl, dass man es bei Dirk Dietrich Hennig mit einem Zeitreisenden zu tun hat. Wie Woody Allens Filmheld „Zelig“, der sich wie ein Chamäleon seiner jeweiligen Umgebung anpasst und so zum Teilnehmer zentraler historischer Ereignisse avanciert, schleicht Hennig sich in Zeitgeschichte ein. Fluxus, Minimal Art und der frühe Expressionismus können ihm ebenso künstlerische Heimat sein wie das 19. Jahrhundert, in das sein nächstes Projekt ihn führen wird. Der Utopie der Avantgarde, dem optimistischen Fortschrittsdenken, setzt er damit eine Strategie der Retrospektive entgegen und erweist sich darin als aktuell. Ein verändertes Verhältnis zur Geschichte, die nicht als verbindliche Historie begriffen wird, sondern vielmehr als ein Nebeneinander vieler gleichberechtigter Geschichten, die re- und dekonstruiert, aber auch ergänzt und fortgeschrieben werden können, zeichnet viele Künstler der jüngeren Generation aus. Der Autor Heinz Schütz spricht von einem „mnestischen Rückgriff“, einer künstlerischen Praxis unter dem Vorzeichen der Erinnerung.(7) Die Reflexion der Vergangenheit als Reaktion auf eine pathologisch auf Innovation, Progression und Wachstum ausgerichtete kapitalistische Welt mag dabei die „Retromania“ auch gesellschaftspolitisch legitimieren. Beim Blick auf das Werk Dirk Dietrich Hennigs, Jahrgang 1967, sind solche Überlegungen allerdings nicht vorrangig. Hier nimmt sich einer mit Chuzpe die Freiheit, sich am vorhandenen Arsenal zu bedienen. Collage, Assemblage, Readymade, Lichtexperiment, Modellbau, Diaprojektion – bei der Wahl von Medium und Technik regiert, so scheint es, das Lustprinzip. Wie sonst ist zu erklären, dass seine Exponate derart authentisch wirken und auratisch zugleich. Das Gestern wird im Heute lebendig. 1 http://expcinema.com/site/en/tate-modern-square-line-and-light 2 https://www.centrepompidou.fr/cpv/resource/cTAG9p/rKaBnK7 3 http://www.georgecupresearchcenter.com 4 Vgl. Klaus Schameitat, Slowenien. Zwischen Alpen, Adria und Pannonischem Tiefland. Berlin: Trescher 2012, S. 213. 5 http://www.altona.info/2010/03/26/premierelesung-paulas-tochter-ein- historischer-kriminalfall-aus-bremen-und-worpswede/ 6 http://www.imdb.com/name/nm6800522/ 7 Heinz Schütz, Jenseits von Utopie und Apokalypse? In: Kunstforum international. Bd. 123 (1993), S. 64.