Faktische Erfindungen -
Erfundene Fakten von
Frank Thorsten Moll
in: Artvalue, Berlin 2012
Zwei dunkel gekleidete junge Männer stehen auf einem Flachdach
eines Hochhauses. Die Szene wäre als banal zu bezeichnen,
hielten die beiden nicht jeweils mit der rechten Hand ein schwarzes
Passepartout vor ihr Gesicht. Sie schauen prüfend durch die
schwarzgerandeten Quadrate, so als würden sie eine Einstellung für
eine Fotoaufnahme oder einen Filmdreh vorbereiten. Ihr Blick trifft
direkt auf den des Betrachters und bekommt dadurch etwas
Herausforderndes. Ihre Gesichter werden durch die Rahmung des
Passepartouts aus der beiläufigen Szenerie eines typischen
Großstadtmotivs herausgehoben und ihre Persönlichkeiten erhalten
dadurch etwas Fiktives und Rätselhaftes. Wer sind die beiden
Männer?
Laut Bildunterschrift des 1976 in New York aufgenommenen Photos
handelt es sich bei den beiden um George Cup und Steve Elliott,
zwei deutschstämmige Künstler. Der Katalogtext der Ausstellung
»Blacked Out. George Cup & Steve Elliottt. Retrospektive« aus dem
Jahr 2007 gibt dem neugierigen Leser weitere Auskünfte, die sich zu
einer spannenden Geschichte zusammenfügen lassen. Als
Künstlerduo stürzten sich die beiden - ursprünglich aus Nord-
deutschland stammend - ins brodelnde New York der 70er Jahre,
wo sie die Kunstszene nach nur kurzer Zeit maßgeblich mitbe-
stimmten. Mit ihrer zur damaligen Zeit extrem fortschrittlichen
minimalistischen Kunstauffassung und ihrem Auftreten als homo-
sexuelles Künstlerpaar machten sie sich zu einer Projektionsfläche
für allerlei Phantasien der Öffentlichkeit. Sogar Andy Warhol legte,
neben vielen anderen heute noch bekannten Stars der Kunstszene,
Wert darauf, sich zu ihren Bekannten zählen zu dürfen. Der
plötzliche Tod des als introvertiert und extrem fleissig beschriebenen
Steve Elliott und die Festnahme des extrovertierten und für seine
Gewaltausbrüche bekannten George Cup setzte dem Höhenflug
des Duos jedoch ein jähes Ende. Wichtige Museen und Privatsam-
mler verkauften ihre Werke und wollten nichts mehr mit ihnen zu tun
haben. Im Rückblick wirkt es heute so, als habe ihr Werk tatsächlich
nie existiert. Für Cup, der erst 2007 rehabilitiert werden konnte, kam
die erste in Deutschland ausgerichtete Überblicksausstellung 2007
jedoch zu spät, denn er verstarb wenige Monate vor der Eröffnung.
Selbst die Kurzfassung dieses tragischen Kunstkrimis klingt so
unglaublich, dass man geneigt ist zu sagen, dass kein Schriftsteller
dieser Welt diese Geschichte erdacht haben kann. Ein Irrtum, wie
sich zeigen lässt! Es handelt sich hierbei tatsächlich um eine als
künstlerisches Projekt konzipierte Retrospektive, deren Hauptdar-
steller Cup und Elliott dem Reich der Fiktion entspringen. Erfunden
hat sie der Konzeptkünstler Dirk Dietrich Hennig (geb. 1967), der
seit 1998 solcherlei »Geschichtsinterventionen« unternimmt. Hennig
erschafft dafür sämtliche Exponate einer Ausstellung, sowie die
dazu gehörenden Geschichten, die er zumeist mit ausgefeilten
institutionellen Konstruktionen, wie zum Beispiel Archiven und
ganzen Nachlässen flankiert. Die zur Untermauerung der
Geschichte oftmals abgedruckten oder ausgestellten Zeitungstexte,
Kritiken und Aufsätze schreibt und gestaltet er mit derart großem
Aufwand und Liebe zum historischen Detail, dass er am Ende eine
fast perfekte Fälschung entstehen lässt. Seine Fiktionen werden zu
Fakten und die natürliche Trennung verwischt in einem Geflecht von
Interventionen.
Erläge man jedoch der Versuchung, die Arbeiten Dirk Dietrich
Hennigs einzig und allein auf die Dimension des Fakes zu
reduzieren, würde die eigentliche Sprengkraft seines Schaffens
übersehen. Durch seine Ausstellungskonzepte, mit deren Hilfe er
das Werk und die Biographien fiktiver Künstler zum Leben erweckt,
setzt er sich gegen zwei wirkmächtige Strategien der Kunstge-
schichte zur Wehr: Biografismus und Überhöhung des Künstler-
individuums. Diese finden immer dann Anwendung, wenn es darum
geht, eine wie auch immer geartete Autorschaft in der Kunstge-
schichte selbst zu verankern. Zu diesem Zweck bedient sich die
Kunstgeschichte häufig des Biografismus, der das Leben eines
Künstlers direkt mit seinem Werk verknüpft und kombiniert dies mit
der Überhöhung des Künstlerindividuums zum genialen,
gottgleichen Schöpfer. Hennigs Waffe gegen diese zwar hinlänglich
bekannten und vielfach kritisierten Strategien liegt in der oben
geschilderten Entlarvung dieser Strategien durch ihre schelmische
Übertreibung. Biografismus wird bei ihm zu einer meisterhaft
vertuschten Schwindelei. Die Überhöhung des Künstlerindividuums
offenbart er durch die bewusste Übersteigerung bekannter
Künstlertopoi der Moderne – so werden seine Künstler entweder
kriminalisiert oder als geisteskrank beschrieben, wie im Fall Jean
Guillaume Ferrées – eines weiteren fiktiven Künstlers, den er im
Umfeld von Fluxus und Nouveau Réalisme ansiedelt.
Jean Guillaume Ferrée (1926-1974) steht im Mittelpunkt der Arbeit
„Centre Hospitalier Spécialisé“ (2012), einer aufwendigen
Installation, die aktuell in der Gruppenausstellung Made in Germany
Zwei in der kestnergesellschaft (Hannover) zu sehen ist. Sie besteht
aus der Rekonstruktion einer Hinterhoffassade, eines Flures und
zweier Räume jener Psychiatrie, in der sich Ferrée in den Jahren
von 1962-1974 wiederholt aufgehalten haben soll. Grund für seine
Einweisung war eine schwer zu behandelnde und seltene Form
einer retrograden temporären Amnesie. Darüber geben Dokumente,
die in einem weiteren Teil der Installation ausgestellt werden, im
zeittypischen Sprachgestus beredt Auskunft. Sein Geburtshaus und
eben jene psychiatrische Klinik, die den erzählerischen Rahmen der
Inszenierung bildet, tauchen in der Installation als Modelle auf,
welche die Besucher der Ausstellung betrachten können.
Hennig lädt mit seinen fiktiven Künstleridentitäten jedoch nicht nur
zum Nachdenken über den Status des Bildes ein, sondern auch
über die Rolle des fiktiven Künstlers. Anders als in der Kunst ist der
frei erfundene Künstler in der Literatur ein weitverbreitetes
Phänomen. Die Enzyklopädie der fiktiven Künstler [i] ist prall gefüllt
mit Künstlergeschichten von Literaten wie zum Beispiel Honoré de
Balzac, die mit ihren Erfindungen Vorbilder für ihre Zeitgenossen
schufen und damit das künstlerische Werk weiterer realer Künstler
beflügelten. Pablo Picasso, wie auch Paul Cezanne sollen von
Balzacs Figur des Künstlers Frenhofer aus der Erzählung „Das
unbekannte Meisterwerk“ (1925) derart begeistert gewesen sein,
dass sie ihre Stile änderten. Viginia Woolfs Protagonistin Lily
Briscoe aus „To the Lighthouse“ (1927) wird bis heute
herangezogen, um die gesellschaftliche Position der Frau zu
beleuchten. Fiktive Künstler können also offensichtlich genauso
weitreichende Kreise ziehen wie reale.
Hennig hat mit seinen Arbeiten gezeigt, dass die wahrscheinlich
naive Verknüpfung von Autor und Werk heute nicht mehr
unhinterfragt bleiben darf. Bei aller Kritik an den bestehenden
Strukturen verweigert sich Hennig jedoch nicht komplett. So taucht
er selbst mehrfach in seinen Installationen auf,indem er sein Portrait
dem jeweiligen Künstler leiht. Er schafft damit ein Netz aus
Verweisen und gibt dem Betrachter damit konstant neue Rätsel auf.
„Wer ist eigentlich dieser Jean Guillaume Ferrée?“ weicht der Frage,
„Wer ist eigentlich dieser Dirk Dietrich Hennig?“ Und was steckt vom
einem im Werk des jeweils anderen? An diesem Punkt
angekommen, zieht Hennig seinen höchsten Trumpf aus dem
Ärmel. Seine Kunst offenbart nämlich nicht nur die Strukturen und
Mechanismen des Kunstsystems, indem er den reibungslosen
Ablauf desselben mit kleinen Störmanövern durcheinanderbringt.
Durch die Musealisierung fiktiver Künstler offenbart er die
Wirkmacht des Museums, das in der Musealisierung der Welt eine
universelle Technologie erfunden hat, die aus Allem und Jedem ein
Etwas machen kann. Er widersetzt sich dieser Technologie, indem
er die Strategien der Musealisierung selbst anwendet, um nicht von
ihr zum Etwas gemacht zu werden.
[i] Koen Brams, Erfundene Kunst. Eine Enzyklopädie fiktiver
Künstler von 1605 bis heute, Frankfurt am Main, 2002
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