Laudatio für
Dirk Dietrich Hennig
Sabine Maria Schmidt zum Hauptpreis / Paula
Modersohn-Becker Preis 2014, Worpswede
“Dirk Dietrich Hennig arbeitet in seiner Kunst seit Jahren mit einer
fiktiven Figur. Es handelt sich bei ihr um den von ihm erfundenen
Künstler Jean Guillaume Ferrée. Die Jury hat überzeugt, wie Hennig
an seinem Beispiel wichtige Ereignisse der Zeitgeschichte und bis in
unsere Gegenwart reichende Zwänge des Kunstsystems
thematisiert.”
Diese summarische Kürze kapituliert ganz bewusst vor der immer
weiter verfeinerten und ausgestalteten Komplexität des Werkes des
Künstlers. Und irgendwie schade, dass sie einen Clou des Ganzen
schon andeutet. Seit 1998 verfolgt Dirk Dietrich Hennig kontinuierlich
einen künstlerischen Ansatz, der sich mit der Geschichtschreibung,
den Mechanismen der revidierenden Geschichtsklitterung sowie den
Mechanismen des Kunstsystems und des Kunstmarktes
auseinandersetzt.
Was Hennig über Jahre entwickelt hat, ist eine Strategie der
“Geschichtsintervention”, die mit Hilfe der Etablierung von fiktiven,
von ihm verkörperten und repräsentierten Persönlichkeiten in die
Kunstgeschichte eingreift. Dabei wurde zunächst und so lange es
möglich war, die Urheberschaft und die Offenbarung dieser
Fiktionalisierung eben nicht aufgedeckt. Als Seitenstrang seiner
Arbeit, gründete er das “Cupere Institut für Geschichtsinterventionen”,
das seine eigene Arbeit parallel theoretisch fundamentiert und
reflektiert.
Hennig nutzt bei der Umsetzung dieser Projekte nahezu alle
künstlerischen Medien und beherrscht souverän verschiedene
künstlerische Sprachformen und Strategien aus unterschiedlichsten
Richtungen. Ihm gelingt es, die Hohheit und Bedeutungsmacht des
Museums zu brechen, in dem er “nicht etwas aus sich machen läßt”
(Nachtigäller), sondern die Strategien der Musealisierung anwendet
und sich auf höchst kluge Weise nebenbei auch der Frage entledigt,
was man heute als Künstler, nachdem schon alles gemacht ist, noch
weiterhin überhaupt machen kann.
Hennig hat die Kunstgeschichte mit verschiedenen fiktiven
Künstlerpersönlichkeiten bereichert: George Cup & Steve Elliott, ein
deutsch-amerikanisches Künstlerduo, das die amerikanische
Minimal-Art mitbegründet hat. Gustav Szathmáry, ein deutsch-
ungarischer Komponist und Fotograf aus der zweiten Häflte des 19.
Jahrhunderts, der als Ex-Liebhaber Paulas mit Ausstellungen im
Paula Modersohn-Becker Museum in Bremen oder im Roselius
Museum in Worpswede gewürdigt wurde. Zu den herausragenden
Künstlerpersönlichkeiten, mit denen Hennig die Kunstgeschichte
verblüfft hat, gehört ebenso Jean Guillaume Ferrée, ein französischer
Nouveau Réaliste. Hennig läßt uns nicht nur sein Oeuvre, zahlreiche
Ausstellungsdokumentationen, sondern auch zahlreiche biografische
Fotos, Publikationen und Zeitungsberichte zukommen. 1974
verkündet die “Bunte” seinen Tod (Freitod oder Unfall?), über den
auch weitere Kunst-zeitschriften berichten und rätseln.
Was Hennigs Werk dabei auszeichnet, ist nicht nur die kreative
Erfindungslust neuer Werke, die schon einmal zu einem anderen
Zeitpunkt hätten entstanden sein können, und die Finesse an den
Werkkonstruktionen, sondern auch ihre perfekte zeithistorische
Einbettung. Dennoch geht es Hennig weniger um die Problematik von
Fakes und Kunstfälschungen, der Arbeit unter Pseudonymen, die ja
auch eine lange Tradition hat, sondern um eine dezidierte
Institutionskritik und Kritik an naïver Geschichtsgläubigkeit. Man
könnte seine Praxis auch als kulturelles Hacking bezeichnen. (Denn
derjenige, der die Macht hat, so Foucault, kann auch bestimmen, was
wahr, gut und schön ist. “Geschichte” wird mit den fiktiven Biografien
Hennigs radikal subjektiviert und der Künstler als
Geschichtenerzähler wiederentdeckt, schrieb der Kunstkritiker Justin
Hoffmann.)
Berühmte Künstler besitzen keinen normalen Lebenslauf. So
reinszeniert Hennig ebenso die Mythologisierung von Künstlern,
verknüpft biographische Dramaturgien und Phantasien in reale
Kontexte. Cup wird des Mordes an seinen Künstlerpartner
beschuldigt und zu lebenslanger Haft verurteilt. Szathmáry wird als
Moorleiche aus Worpswede geborgen und Ferré leidet an einer
neurologischen Erkrankung: die retrograde temporäre Amnesie. Die
in dieser Ausstellung zusammengetragenen Werke des Künstlers,
darunter das “Diorama” erschließen sich erst gänzlich um das Wissen
dieser biographischen Note. So sind sie für den fiktiven Ferré
Manifestationen des eigenen Lebens, nach schubartigen Ausfällen
völliger Erinnerung. Und mit dem Thema der
“Existenzvergewisserung” auf übertragener Ebene auch Kommentare
über die Bedeutung von Geschichtskonstruktionen im Werke
Hennigs.
Muss die Kunstgeschichte umgeschrieben werden? Warum werden
so zahlreiche Werkgruppen von Künstlern so lange nicht in
angemessenem Maße rezipiert? Verändert sich mit dem Blick auf neu
entdeckte Künstlerpersönlichkeiten der Blick auf die entsprechenden
Kunstströmungen? Welche neuen Querverbindungen tun sich auf?
Ja, natürlich muss die Kunstgeschichte mmer wieder umgeschrieben
werden und vor allem auch die des Kunstbetriebes. Es muss
allerdings auch immer wieder gesagt werden.
Sabine Maria Schmidt, September 2014, Düsseldorf / Bremen
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